Homo Digitalis und die CONDITIO HUMANA:

Mensch und Menschenbild im Zeitalter der Digitalisierung

BCSSS Online Konferenz 19th March 2020

Felix Tretter und Stefan Blachfellner von der BCSSS waren für die Organisation dieser Veranstaltung verantwortlich, die ursprünglich als Direkttreffen geplant war. Dieses Format musste aufgrund der Corona-Krise abgesagt werden und konnte am Donnerstag, 19.3.2020, sozusagen in letzter Minute in das elektronische Format einer Zoom-Konferenz umgewandelt werden.

Die elektronischen audiovisuellen Konferenzbeiträge werden derzeit bearbeitet. Vorab soll hier ein Protokoll der Ergebnisse präsentiert werden. Beginnend mit der thematischen Einführung in das Tagungsthema durch Felix Tretter und den anschließenden Beiträgen zu den Tagungsthemen.

Zunächst stellten Felix Tretter und Stefan Blachfellner die Entwicklung und das Programm der Konferenz vor:

Der berühmte Wiener Philosoph und Biologe Ludwig von Bertalanffy, einer der Begründer der Allgemeinen Systemtheorie und Namensgeber des Bertalanffy-Centers, dem die BCSSS gewidmet ist, kritisierte in seinem Buch „Robots, Men and Minds“ (1967,1) die alarmierende Annäherung des „rattomorphen“ Menschenbildes der modernen behavioristischen Psychologie und des Computermodells des Menschen durch die technische Kybernetik: Demgegenüber ist der Mensch seiner Ansicht nach mehr als eine informationsverarbeitende Maschine, die durch Reiz-Reaktions-Beziehungen bestimmt wird, sondern ein spontanes und kreatives Lebewesen, das komplexere Emotionen und Bedürfnisse und eine vielschichtige Persönlichkeit aufweist, die sein Verhalten prägt und nur als eingebettet in seine Umwelt verstanden werden kann. Von besonderer Bedeutung für den Menschen ist die Ebene der Sprache und der Symbole, eine Hypothese, die nun im Zeitalter der Digitalisierung neu bewertet werden muss. Dies hat er auch in seiner organismischen Systempsychologie gezeigt.

  • Die Ergebnisse der BCSSS-Arbeitsgruppe „Human Digitalisation“, die seit Oktober 2018 in einer Reihe von interdisziplinären Workshops die Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung im Gesundheitswesen auslotet, waren ein weiterer Punkt auf der Konferenzagenda. Im Mittelpunkt der Tagung standen unter anderem die Qualitätssicherung digitaler Gesundheitsinformationen und der Wandel des öffentlichen und professionellen Gesundheitsbewusstseins sowie
  • die Vorarbeiten von Felix Tretter zu einem Menschenbild in Form des „Homo informaticus“, das in eine mehrjährige interdisziplinäre Veranstaltungsreihe zum Menschenbild im 21. Jahrhundert an der Universität Wien eingebettet ist.
  • Die Initiative der Stadt Wien ab Sommer 2019 einen „Digitalen Humanismus“ zu realisieren, dient als eine Art Orientierung für die weitere Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). Dieses Konzept basiert auf dem „Manifest zum Digitalen Humanismus“ des Dekans der Fakultät für Informatik, Hannes Werthner, vom Mai 2019 und auf dem Buch des Philosophen Julian Nida-Rümelin und der Filmwissenschaftlerin Natalie Weidenfeld, das parallel im Herbst 2018 erschienen ist.
  • Die Aktivitäten der Wiener Gruppe „Homo digitalis“ aus der Fakultät für Informatik der Universität Wien (Peter Reichl), der Informatikabteilung der TU (Christopher Frauenberger) und dem Institut für Philosophie (Michael Funk), arbeiten daran die Vision einer digital-philosophischen Anthropologie umsetzen.

Felix Tretter erläuterte die Gliederung des Konferenzthemas:

Unter dem Titel „Homo sapiens, Homo neurobiologicus and Homo digitalis -anthropological perspectives“ gab Tretter einen Überblick über die aktuellen Schwerpunkte der Debatte um einen Homo informaticus oder genauer gesagt einen Homo digitalis und dessen Anspruch auf die Gültigkeit der klassisch-humanistischen Form von Menschenbildern im Hinblick auf die von Hannah Arendt und vor allem von Helmuth Plessner herausgearbeiteten „conditions of possibility“ des Menschseins (conditio humana). Die aktuellen Anlässe, das Bild vom Menschen als das ultimative Vernunfttier im Sinne von Aristoteles zu korrigieren, sind die neueren Erfolge der Künstlichen Intelligenz (KI), die darin bestehen, dass lernende Algorithmen von Maschinen implementiert wurden, die nicht nur besser Schach oder Go spielen als der Mensch, sondern auch im Skat überlegen sind. Auch einige medizinische Diagnosen können mit Big Data besser gestellt werden als von Ärzten. Dies führt zu einer Minderwertigkeitserfahrung des Menschen und damit zu einer Erschütterung des klassischen humanistischen Menschenbildes im Sinne des Homo deus nach Yuval Noah Harari. Auf der anderen Seite zeigt der allseitige Einsatz von IKT im Alltag aber auch, dass es erhebliche Defizite der IKT gibt, von denen die Menschen immer abhängiger werden, weil herkömmliche Praktiken (z.B. Kundenservice) zunehmend automatisiert werden (z.B. Hotline). Des weitern wurde die Dysfunktionalität der „Terminals“ für manche Benutzer und Situationen, wie z.B. die Benutzeroberfläche der Hardware über Touchscreens, mit ihrer manchmal deletanten „verzögerten Reaktion“, bereits von der US Navy für einen Schiffbruch verantwortlich gemacht wurde. Oder die Software, die in der menschlichen Interaktion nach Algorithmen in Form einer mechanistisch-unmenschlichen, aber standardisierten Ablauflogik gestaltet ist, bereitet Schwierigkeiten. Dies spiegelt die Denkweise des betrieblichen „Qualitätsmanagements“ wider, das von seinen Mitarbeitern standardisiertes „algorithmisiertes Handeln“ fordert und die Grundlage für die Digitalisierung bildet. Ein weiterer Bereich ist Big Data, der von Privatpersonen und zunehmend auch von IKT-Unternehmen als ungewollte Datenspende angesehen wird, da deren eigentliches Interesse darin besteht, möglichst viele Daten über IKT-Nutzer zu erhalten. Von der Genom-Analyse über die Gesichtsgeometrie und Psychometrie durch scheinbar scherzhaft gemeinte Persönlichkeitstests in social media über die medizinische „Cerebrometrie“ und die über Social media ermöglichte Soziometrie der Freundesnetzwerke erfolgt über Zusammenführung von Daten eine ganzheitliche Erfassung des Menschen in Form einer multidimensionalen Verhaltensdeskription, die zur Verhaltensprädiktion und -beeinflussung genutzt wird, nicht nur im kommerziellen, sondern – wie Cambridge Analytica Skandal zeigt – auch im politischen Bereich. Es gesellt sich also zum grundlegenden Unterlegenheitserleben auch ein alltägliches Überforderungserleben So stellt sich bei manchen Menschen ein digitaler Burnout ein. Außerdem verändert die permanente Nutzung der IKT die affektiv-kognitive Informationsverarbeitung und damit die Gehirnstruktur, vom sozialen Leben ganz zu schweigen, was manche Experten, vor allem mit Blick auf die kindliche Entwicklung, mit dem Begriff der „Digitalen Demenz“ umschreiben. Also ist die IKT zwar in jeder ihrer Teilleistungen vollkommener als der Mensch, aber der Mensch ist, gesamtheitlich und mehrdimensional betrachtet, trotz seiner punktuellen Unvollkommenheit im Sinne des Prometheus Mythos im Vergleich zu den Maschinen vollkommen: Die niedrig dimensionale „Vollkommenheit“ der unvollkommenen Maschine muss also mit der Komplexität des Menschen, der durch seine Vielfalt „vollkommen“, aber im Einzelnen „unvollkommen“ ist, verglichen werden. Die Wahrnehmung der Gefährdung des Menschen, die sich angesichts der umfassenden Entwicklungen der Digitalisierung stellt, hat die Deutsche Daten-Ethik-Kommission im Sinne der „digitalen Ethik“ grundsätzlich betont: Sie hebt die Notwendigkeit der Wahrung der „Würde des Menschen“ hervor (18): „Die Würde des Menschen, die für den unbedingten Wert jedes menschlichen Lebewesens steht, verbietet etwa die digitale Totalvermessung des Individuums ebenso wie seine Herabwürdigung durch Täuschung, Manipulation oder Ausgrenzung“.

In dieser Hinsicht ist also zu überprüfen, was das essentiell Menschliche ist, und in welchem Verhältnis es zu dem Impact der Digitalisierung als soziotechnisches Supersystem in der Alltagswelt steht. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund:

1. Was ist ein Menschenbild und welche akademische Disziplin hat hierzu die robustesten Erkenntnisse? Kann Philosophie helfen?

2. Menschenbilder der Wissenschaften

3. Begriffsproblematik: „Der“ Mensch oder „die“ Menschen ?

4. Die besondere fachliche Rolle der Psychologie

5. Das Soziale und die soziologische Perspektive

6. Konturen des Homo digitalis

KLAUS MAINZER (Emeritus of Excellence, TU Munich / Carl Friedrich von Weizsäcker Center, Universität Tübingen) konnte wegen der Coroana-Krise nicht teilnehmen und daher seinen Beitrag mit dem Titel: „Künstliche Intelligenz. When do the machines take over?“ nicht vorstellen. Der Vortrag war als Präsentation der Aktualisierung des gleichnamigen Buches geplant. Sie wird so bald wie möglich in Wien live nachgeholt.

THOMAS SCHMAUS (Alanus Hochschule, Alfter/Bonn) beleuchtete das Thema „Der (un-)berechenbare Mensch. Philosophical remarks on digital sustainability“, wo er einige der Probleme der Vermessung des Menschen thematisierte. Er stellte die Bedeutung der Zeitlichkeit für die Conditio humana in den Mittelpunkt und betonte in einer zeitphänomenologischen Schilderung die unterschiedliche Bedeutung der Begriffe „Futurum“ und „Adventum“ für die menschliche Erfahrung der Zukunft. Futurum wird in diesem Zusammenhang als eine aus der Vergangenheit und Gegenwart prinzipiell ableitbare und vorhersehbare Zukunft verstanden – Adventum hingegen bezeichnet die Erfahrung einer weitgehend unbestimmten, ungeplanten und überraschend eintretenden Zukunft.

ECKHARD FRICK (Hochschule für Philosophie München) untersuchte die psychosomatische Anthropologie im Licht der Digitalisierung. Aus der Perspektive der anthropologischen Psychosomatik konzentrierte er sich auf das Phänomen der Scham, deren phänomenologische Voraussetzung die von Plessner beschriebene „eccentric positionality“ des Menschen ist.

GERHARD GRÜNDER (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim) hielt ebenfalls einen Vortrag zum Thema Homo neurobiologicus und digitale Psychiatrie. Er konzentrierte sich auf die digitale Phänotypisierung in der aktuellen psychiatrischen Forschung, zum Beispiel durch die elektronische Erfassung und Analyse von Tweets über Schlafstörungen. In der psychiatrischen Forschung und auch in der Praxis werden die Befindlichkeiten von bipolaren Patienten zunehmend mit Smartphones erfasst und zur Auswertung an den Krankenhausserver gesendet. Ziel ist es, den Verlauf der Symptome genauer zu erfassen und kritische Konstellationen zu erkennen, um auch eine Prophylaxe durchführen zu können.

JULIA NEIDHARDT (Informatik, TU Wien) stellte das von HANNES WERTHNER (Informatik, TU Wien) im April 2019 initiierte „Manifest zum digitalen Humanismus“ vor. Es liegen bereits 800 Unterstützungsunterschriften vor.

PETER REICHL (Informatik, Universität Wien) präsentierte das Projekt PANDORA -Philosophische Anthropologie im digitalen Wandel. Er bezog sich zunächst auf die Philosophie von Günter Anders, der in der Strategie der dialektischen Umkehrung von Begriffen eine Möglichkeit sah, deren tieferen Wahrheitsgehalt zu erkennen. Verantwortungsvolle Gestaltung der Digitalisierung, zum Beispiel in Form einer Art „digital ecology“.

CHRISTOPHER FRAUENBERGER (Informatik, Technische Universität Wien) skizzierte kurz grundlegende Fragen der Mensch-Maschine-Interaktion. Am Beispiel seiner Arbeit als Informatiker mit autistischen Kindern stellte er einige der Arbeitsbereiche vor, die diese Herausforderungen beinhalten. Er kam zu dem Schluss, dass es sich um ein Problem der Richtlinien für die Gestaltung digitaler Technologien in Form eines „partizipativen Designs“ handelt. Dies sollte den Politikern deutlich gemacht werden, damit sie die Weichen für solche Entwicklungen stellen. Dies würde aber auch eine Kultur der produktiven Debatte erfordern, die eine dialektische Entwicklung ermöglicht.

MICHAEL FUNK (Technikphilosophie, Universität Wien) hielt einen Vortrag zum Thema „Authentische Empathie – die Grenzen humanoider Roboter“. Er führte zunächst die Tradition der Technikphilosophie ein. Er betonte, dass der Begriff der Technologie in einem breiteren Sinne verstanden werden muss, der auch Denkstile einschließt. Der Rückgriff auf Martin Heidegger, Helmuth Plessner, Ludwig Wittgenstein und auch aktuell Bruno Latour bot eine gute Grundlage für die Technikphilosophie der Digitalisierung.

Das ausführliche Protokoll der Online-Konferenz finden Sie hier.

Fazit der Konferenz

Die Diskussionen in den Massenmedien und sozialen Medien über die Leistungsfähigkeit digitaler IKT im Bezug auf menschliche Fähigkeiten stellen Unsicherheiten dar, insofern sie nicht auf eine expliziten Hintergrund einer zeitgenössischen Anthropologie bezogen werden können. Dementsprechend finden die teilweise sehr oberflächlichen Konzepte des Transhumanismus und Posthumanismus einen guten Nährboden. Eine zeitgemäße Anthropologie könnte sich – wie im Verlauf der Tagung mehrfach gezeigt wurde – vor allem auf das Konzept von Helmuth Plessner stützen, der sowohl die allseitige Affinität zur Technik als „natürliche Künstlichkeit“ als auch die Medialität des Digitalen durch die „vermittelte Unmittelbarkeit“ identifizierte. Im Hinblick auf die Mensch-Maschine-Vergleiche, die eigentlich die Anthropologie des 21. Jahrhunderts prägen müssen, bietet Plessner mit dem Grundbegriff der „exzentrischen Positionalität“ auch ein markantes Unterscheidungsmerkmal zu IKT-Maschinen in Hard- und Software.

Perspektive der Konferenz

Die Tagung hat den Eindruck verstärkt, dass eine Vertiefung dieses Diskurses – hier kurz „Menschenbilddebatte“ genannt – durch die Beteiligung verschiedener Disziplinen aus den Technik-/Informatikwissenschaften, der Philosophie, den Geistes-, Verhaltens-, Bio-, Sozial- und Kulturwissenschaften von grundlegender Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen im digitalen Zeitalter ist. Entsprechend sollten weitere Konferenzen oder Forschungsprojekte folgen.

Die BCSSS freut sich auf die kommenden Schritte und Dialoge.